Wie sieht es aus in Deutschland und Europa, und was können wir tun? In
Krisenzeiten ist Orientierung Gold wert, und im hektischen Berufsalltag
fehlt manchmal die Zeit, sich wirklich darum zu kümmern. Die Zeit
zwischen den Jahren kommt uns da gerade recht, und auch ich werde mich
mit einigen Denk- und Leseaufgaben zurückziehen.
Im Lauf des nun zu Ende gehenden Jahres hatte ich Gelegenheit, einige
Stellungnahmen zur aktuellen Situation zu bewerten, und die Hinweise auf
anregende und spannende Bücher gebe ich Ihnen gern weiter – vielleicht
ist etwas für Sie dabei, und vielleicht ja auch etwas zum Verschenken.
1: Was heißt Freundschaft?
Ein Highlight meines Lesejahres war Björn Vedders Buch Neue Freunde:
Über Freundschaft in Zeiten von Facebook. Der Titel verkauft den Inhalt
massiv unter Wert. Ja, es geht auch ein bisschen um Facebook. Es geht
auch um altmodische und folgenlose Vorbehalte gegen das Netzwerk. Aber
mit dem Wort „neu“ im Titel ist viel mehr gemeint, und zwar so viel,
dass dem Leser angesichts des intellektuellen Wagemuts der Atem stockt.
Zumal Björn Vedder eben auch noch einhält, was er verspricht – „eine
Theorie der Freundschaft“ zu liefern. Neue Freunde will feststellen,
was „Freundschaft“ heute heißen kann. Ein spannendes Buch, anspruchsvoll
und ehrlich. Dauernd streicht man sich etwas an, und fast versucht man,
die angestrichenen Formulierungen auswendig zu lernen!
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2: Politische Emotionen
Warum hat die AfD eigentlich das Monopol auf politische Emotionen in
Deutschland? Die anderen Parteien sprechen vom Problemelösen. Sie geben
sich rational und sachlich und haben Angst vor dem Populismus. Emmanuel
Macron zeigt, dass es anders geht – dass auch die Mitte emotional und
volksnah sein kann. (Eigentlich wissen Union und SPD das doch auch …)
Und welche Emotionen sieht man auf der Rechten? Nicht Wut, sagt Uffa
Jensen, sondern Zorn. Seine Analyse der politischen Emotionen in
Deutschland ist – angenehm unemotional und erhellend!
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3: Vertrauliche Gespräche über den Zustand unserer Gesellschaft
Zygmunt Bauman war einer der wichtigsten Soziologen der letzten
Jahrzehnte. 2014 und 2016 empfing Bauman den Schweizer Autor Peter
Haffner in seinem Haus in Leeds, um sich mit ihm ausführlich über sein
Leben, sein Werk und seine Hoffnungen auszutauschen. Die nun als Buch
vorliegende Fassung streift Baumans große Themen: die Liebe in Zeiten
des Online-Shoppings, das Gottesbedürfnis des Atheisten, die
Regierungslosigkeit der ebenso ungleichen wie fragmentierten wie
vernetzten Welt, die Spannung zwischen Sozialismus und Optimismus, die
Gestaltbarkeit der Welt im Augenblick der moralischen Entscheidung. Ein
Glanzstück der Gesprächskultur!
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4: Zurück zum Stammesfeuer?
Zygmunt Baumans letztes Buch beschäftigt sich mit der Sehnsucht vieler
Menschen in westlichen Ländern nach einer Rückkehr zu den Wurzeln, zu
Nationen, Stämmen und Nachbarschaften. Das Buch streift viele Themen,
manchmal zu kurz, manchmal nur sehr aus erlesener Ferne. Aber die
Auseinandersetzung mit dem Thema Bedingungsloses Grundeinkommen, die
Lektüre von Selbsthilfebüchern im Gefolge von Ayn Rand und die
frappierende katholische Schlusswendung machen die Lektüre spannend –
ein Buch, bei dem man auf jeder Seite zwei Einwände hat. Auch das ein
Kompliment!
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5: Neue Marmorklippen
Von Ernst Jünger kennt man vor allem zwei Werke: In Stahlgewittern,
das wichtigste tagebuchbasierte deutsche Buch aus dem Ersten Weltkrieg,
und Auf den Marmorklippen (1939), das nun in einer Neuausgabe
vorliegt. Neben dem Text sind die zeitgenössischen Rezensionen
aufgenommen, und private Äußerungen über das Buch aus der Zeit des
Zweiten Weltkriegs von Autoren wie Heinrich Böll, Alfred Andersch, Carl
Schmitt und Jean Cocteau. Sie zeigen: Jüngers Buch wurde tatsächlich als
das wesentliche widerständige Buch aus der Zeit des Dritten Reiches
wahrgenommen. Aber die NS-Machthaber griffen es nicht an, denn sonst
hätten sie ihre Schuld an Verrohung und Brutalität eingestehen müssen,
die im Buch fast märchenhaft überformt werden. Ein Klassiker der
deutschen Literatur, ergänzt durch faszinierende Dokumente und Analysen
des Herausgebers Helmuth Kiesel.
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6: Die größte Macht der Erde: Ebbe und Flut
Die Hälfte der Menschheit lebt an Küsten – trotzdem wissen wir wenig
über die Elementarkraft der Gezeiten. Und das obwohl deren physische
Präsenz uns seit jeher beeinflusst und vielleicht sogar unsere DNA
miterschaffen hat. Schon Aristoteles brachte ihre Unberechenbarkeit zur
Weißglut, und ihre potenziell zerstörerische Kraft wird die Menschheit
auch in Zukunft betreffen. Hugh Aldersey-Williams beschreibt, wie der
Mensch die Gesetze erforscht, denen das Wasser – und damit auch das
Klima – unterworfen ist. Leichtfüßig verbindet er die Wissenschaft von
Ebbe und Flut mit großen Erzählungen und Mythen. Nehmen Sie Platz, das
maritime Drama mit einer Länge von 12 Stunden und 30 Minuten beginnt!
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7: Preisträger-Potpourri
Lauter Highlights bringt die neue Ausgabe von „Deutschlands frechster
Literaturzeitschrift“ (Cicero) zum Thema Natur: Dabei sind James Dickey,
der mit Deliverance (Flussfahrt) einen der wichtigsten
amerikanischen Romane überhaupt schrieb (verfilmt mit John Voight und
Burt Reynolds unter dem Titel Beim Sterben ist jeder der Erste),
Büchner-Preisträger Jan Wagner, der konservative Starautor Martin
Mosebach und der kauzige Kultautor Ulrich Holbein.
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8: Ankunft in einer fremden Stadt
Ein
Literaturnobelpreisträger
sagte einmal, man müsse auch nicht dauernd was Neues lesen – sondern die
Bücher finden, die einem wirklich etwas sagen, und die müsse man immer
wieder lesen. Eines dieser Bücher ist für mich Devices and Desires von
Dick Davis, mit seinem Gedicht über die Ankunft des Reisenden in einer
fremden Stadt. „Ibn Battuta“ ist sozusagen der islamische Marco Polo,
und er schildert in seinem Reisebericht, wie er ankam und jeder wurde
von einem lieben Gesicht begrüßt, nur er nicht. Dick Davis greift diese
Szene auf und beschreibt, wie sehr sie uns noch heute bewegt.
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9: Krise und Gemeinschaft
Mit einer multidisziplinären Forschungsgruppe habe ich in den letzten
fünf Jahren eines der provokativsten und ungewöhnlichsten Werke in
deutscher Sprache am Hanse-Wissenschaftskolleg untersuchen dürfen:
Stefan Georges Gedichtband Der Stern des Bundes. Am Vorabend des
Ersten Weltkriegs stellt George soziale, religiöse, poetologische,
persönliche, philosophische und sogar wirtschaftliche Fragen. Der Stern
des Bundes galt als Voraussage kommender Katastrophen, als Warnung und
als Anregung zu neuer Gemeinschaftsbildung im Angesicht großer Krisen.
Krise und Gemeinschaft ist eine Einführung zu diesem Buch – Aufsätze
zu den großen Themen des Buches werden ergänzt durch Beiträge zu
wichtigen Worten aus dem Stern und Interpretationen zentraler
Gedichte.
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10: Kritische Kollektivität
Carolin Wiedemann ist den Leser des Frankfurter Allgemeine Quarterly als
Autorin fesselnder kleiner Einblicke in den modernen gesellschaftlichen
Alltag vertraut. In ihrem Buch Kritische Kollektivität im Netz:
Anonymus, Facebook und die Kraft der Affizierung in der
Kontrollgesellschaft stellt sie die These auf den Prüfstand, dass
soziale Netzwerke zur Demokratisierung und zu einer grundlegenden
Neuordnung von Machtverhältnissen führen können. Sie ist skeptisch und
untersucht im Detail, was eigentlich heute „subversiv“ ist und wo es
neue „Kollektive“ gibt. Ihre Zurückweisung des Technikoptimismus ist
überzeugend, aber was menschliche Handlungsfähigkeit und politische
Aktion angeht, geht das Buch meiner Meinung nach nicht weit genug. Aber
vielleicht sehen Sie das anders?
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Wir empfehlen Ihnen folgende Zitierweise:
Fricker, Christophe: „10 Leseempfehlungen von Dr. Christophe Fricker”, unter: https://www.nimirum.info/insights/b_218-leseempfehlungen-christophe-fricker/ (abgerufen am 3/12/2019).